12.10.2019 Spannende Schienenverkehrsschätze

12.10.2019       Spannende Schienenverkehrsschätze: Archive rund um Stuttgart  – Moderation Jürgen Ranger
Rückblick von Dr. Peter Hartmann

Um es gleich vorweg zu sagen: Gewisse Bedenken des Vorstands der Verkehrsfreunde, dass ein derartiges Thema fern von Bahnreminiszenzen, Stadtbahnprojekten oder Fahrtberichten bei unseren Mitgliedern nur auf schwache Resonanz stoßen würde, erwiesen sich als absolut unbegründet. Trotz noch fast spätsommerlichen Wetters füllten 82 Teilnehmer den Saal Degerloch des SSB-Veranstaltungszentrums Waldaupark, die den Ausführungen der referierenden Damen und Herren mit großem Interesse folgten. In der halbstündigen Pause und nach der Veranstaltung gab es lebhafte Gespräche und Nachfragen. Bernd Katz hatte in weiser Voraussicht bereits vor Monaten für die Verlegung des Tagungslokals von der Dobelstaße in die Waldau Sorge getragen und damit nicht nur etwaigen Platzproblemen vorgebeugt, sondern auch die angenehme Gastronomie des SSB-Veranstaltungszentrums für den geschätzten Gedankenaustausch nach den „lehrreichen“ rund 2 ½ Stunden gesichert. 32 Teilnehmer machten davon gern Gebrauch. Allgemeine Meinung: eine wirklich gute Idee!

Eigentlicher Initiator dieser ungewöhnlichen Saalveranstaltung war unser langjähriges Mitglied Jürgen Ranger, der im Vorstand der Härtsfeld-Museumsbahn u.a. für deren umfangreiches und wertvolles Archiv zuständig ist. Aufgrund seiner einschlägigen Erfahrungen, insbesondere der Zusammenarbeit mit anderen Archiveinrichtungen im Großraum Stuttgart, hielt er das Thema der geordneten Sammlung, Bewahrung, Erschließung und Benutzung historischer Dokumente, Abbildungen und Gegenstände unter dem besonderen Gesichtspunkt des Schienenverkehrs für wichtig und interessant. Bereits vor mehr als einem Jahr unterbreitete er daher dem Vorstand der Verkehrsfreunde Stuttgart den Vorschlag einer gemeinsamen Veranstaltung mit Vertretern verschiedener Archive im Mittleren Neckarraum, der dort auch sofort auf Interesse stieß. Dass es dann im Oktober 2019 zu einer derartig hochkarätig besetzten Vor-tragsveranstaltung kommen würde, haben wir uns damals aber kaum vorstellen können.

Die Fragen, die behandelt werden sollten, zielten in zwei Richtungen: Zum einen: Wo und wie bekommt man aus einem Archiv (und aus welchem) Material für historische Arbeiten zu unserem Leitthema Schienenverkehr in der Region? Zum anderen: Inwieweit können Archive helfen, wertvolles bahnhistorisches Material unserer Mitglieder vor der Vernichtung zu bewahren und für spätere Arbeiten nutzbar zu machen. Um darauf Antworten zu finden, sollte in einem ersten Schritt das staatliche und private Archivwe-sen in Baden-Württemberg systematisch dargestellt und anhand von ausgewählten Beispielen illustriert werden. Dies geschah in fünf, mit zahlreichen Folien hinterlegten Referaten.

Den Anfang machte der uns von seinem Vortrag zu Bottwartalbahn und den Feldbahnen um Ludwigsburg bekannte Archivar des Ludwigsburger Kreisarchivs Wolfram Berner. Er gab einen Überblick über die Archivlandschaft in Baden-Württemberg, die durch ein Landesgesetz strukturiert ist und verortete darin sein Referat und das der vier Ko-Referenten des Nachmittags. Bemerkenswert ist, dass neben den Staatsarchiven, die die Direktorin des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs im weiteren Ablauf der Veranstaltung vorstellte, eine große Zahl nichtstaatlicher Archive existieren, die vermutlich für Recherchen zum Thema Schienenverkehr bzw. für die Sicherung einschlägiger privater „Schätze“ die größte Bedeutung haben. Er führte die folgenden Gattungen auf, gab Erläuterungen dazu und zeigte Internetportale, die gezielten Zugang ermöglichen:

•    Kommunalarchive (Kreis-, Stadt-und Gemeindearchive)
•    Kirchliche Archive
•    Herrschafts-, Haus- und Familienarchive
•    Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg
•    Archive von Parlamenten, politischen Parteien, Stiftungen und Verbände
•    Medienarchive
•    Archive an Hochschulen und anderen wissenschaftlichen Einrichtungen
•    andere Archive (Museen, Bibliotheken, Vereine, Firmen, Zeitungen)

Aus den einzelnen Archivgattungen konnte er Seiten mit dem Fokus auf den Schienenverkehr vorführen, z.B. das Foto einer Kasten-Dampflok aus dem Archiv der Härtsfeld-Museumsbahn, eine Seite zur Eröffnung der Bottwartalbahn aus einem Zeitungsarchiv oder das Betriebsbuch einer Henschel-Werks-Diesellok aus einem Firmenarchiv. Wichtig war auch sein Hinweis, dass immer noch nur ein geringer Teil digitalisiert ist und dass die vorhandenen Originale oft einen reichen Informationsschatz beinhalten.

Im zweiten Referat gewährte uns Ralph Hölscher einen Einblick in die Archivarbeit der Stuttgarter Historischen Straßenbahnen e.V. Zu den Zielen des Vereins gehört nämlich neben „Einrichtung und Betrieb eines der Öffentlichkeit zugänglichen Museums“ auch „Beschaffung, Auswertung und Erhaltung aussagefähiger Schrift- und Bilddokumente“, also Archivarbeit. Das SHB-Archiv hat folgende Gliederung:

•    SSB-Firmenzeitschrift „Über Berg und Tal“
•    Bücherei und Bildarchiv
•    Dokumente
•    Fahrpläne, Vorschriften und Tarife
•    Planarchiv

Der Referent betonte, dass das Archiv primär der Vorbereitung von Ausstellungen oder Publikationen der SHB dienen soll, dass aber auch externe Nutzer Zugang haben, wobei entstehende Kosten in Rechnung gestellt werden. Die Originale verlassen das Archiv nicht. Zum Sammlungsgegenstand gehörende Bilder und Schriften können übernommen werden, wenn die SHB das volle Nutzugsrecht erhält. 15 Abbildungen von Fahrzeugen, Karten und Plänen, Fahrscheinen, Fahrplänen und Betriebsvorschriften gaben an-schließend ein lebendiges Bild von Umfang und Vielfalt der Bestände.

Dass mit Frau Dr. Nicole Bickhoff die Direktorin des Stuttgarter Hauptstaatsarchivs an diesem Nachmittag höchstpersönlich auf die Waldau gekommen ist, um ihre Institution vorzustellen, darf man getrost als eine Auszeichnung für unsere Vereinigung ansehen. Dem tut es keinen Abbruch, dass, aufgrund der Aufgabenverteilung der staatlichen Archive unseres Bundeslandes zwischen dem Hauptstaatsarchiv und den Informationsbedürfnissen unserer Mitglieder eher geringe Überschneidungen bestehen. Diese Tatsache erhellt schon aus der von Frau Dr. Bickhoff erklärten Übersichtskarte und Zuständigkeitsliste. Wenn man von den politisch-historischen Sonderfällen der Archive in Wertheim (Fürstentum Löwenstein) und Öhringen (Haus Hohenlohe) absieht, gibt es nämlich im Südweststaat fünf Landesarchive, die sich an den Vorgängerstaaten Baden, Württemberg und Hohenzollern bzw. den heutigen Regierungsbezirken orientieren:

Neben dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart die Staatsarchive Ludwigsburg und Sigmaringen (Württemberg) sowie das Generallandesarchiv Karlsruhe und das Staatsarchiv Freiburg (Baden). Der Schwerpunkt des Hauptstaatsarchivs liegt dabei neben militärischen Beständen, Karten, Film- und Tonaufzeichnungen auf Regierungsdokumenten (Denkschriften, Beschlüsse, Gesetze, Staatsverträge etc.) während Ludwigsburg für die Generaldirektionen der ehemaligen Staatseisenbahnen und die Reichs- und Bundesbahndirektion Stuttgart, die Kreisregierungen und die ehem. Oberämter, nach 1945 auch die Regie-rungspräsidien zuständig ist. Im Hauptstaatsarchiv sind etwa 75% des Archivguts oder 12,6 Mio. Datens-ätze durch Online-Recherche zugänglich. Einsicht in Original-Archivalien ist nach Vorbestellung im Le-sesaal möglich. Auch Frau Dr. Bickhoff stellte beispielhaft einige, das Eisenbahnwesen betreffende Do-kumente vor: so zum Bau und Betrieb der Bahn Marbach – Heilbronn (Bottwartalbahn), zum Bau der Ammertalbahn Tübingen – Herrenberg und der Zahnradbahn Stuttgart – Degerloch – erstaunlich aus heutiger Sicht, dass dafür das württembergische Ministerium des Äußeren zuständig war. Auch eine Denkschrift zum Erhalt der Bottwartalbahn ist erhalten, nun aber dem Innenministerium des Landes zugeordnet.

Nach der halbstündigen Pause hörten wir zunächst einen, ebenfalls mit zahlreichen Bildern unterlegten Beitrag unseres Mitglieds und mehrfachen Buchautors Werner Willhaus über eine ziemlich beispiellose Rettungsaktion und das daraus entstandene Archiv des Arbeitskreises Eisenbahn-Historie Württemberg. Anlass war 2002/2003 die Aufgabe des ehemaligen Stuttgarter Direktionsgebäudes durch die DB AG und die entstandene Gefahr, dass eisenbahnhistorisch wertvolles Material im Reißwolf landete. 12 Personen taten sich zusammen, um dieses zu bewahren, zu erschließen und für vielfältige Veröffentlichungen nutzbar zu machen. Dabei wurden auch erhebliche private Mittel eingesetzt. Der Referent gab einen eindrucksvollen Überblick über die Art des Materials und seinen ursprünglichen und heutigen Zustand:

•    Rollenpläne
•    Akten der DB und des AW Cannstatt
•    Bildschrank der Presse-Stelle
•    Negativsammlung Umbauten Bahn
•    Bücher und Einlieferungen

Fotos vom Archivgut machten deutlich, welche enorme Arbeit darin steckte und steckt, die z.T. ungeord-neten Bestände adäquat abzulegen und unterzubringen. Aufbewahrungsort ist das ehemalige Stellwerk des Bahnhofs Schorndorf, dessen Zukunft leider nicht gesichert erscheint. Besonders verdienstvoll ist die Tatsache, dass hier nicht bloß gelagert und verwaltet wird, sondern dass der Arbeitskreis eine ganze Reihe gehaltvoller Veröffentlichungen herausgebracht hat, von denen bespielhaft Monographien zu den württembergischen Dampflokbaureihen K, T, T3 und T5, den Kittel-Dampftriebwagen, aber auch den badischen (!!) Reihen VI b und VI c sowie zu „Lokomotiven aus Karlsruhe“ und zur Wieslauftalbahn genannt seien. Wahrhaft echte Erschließungsarbeit! Der Arbeitskreis hält regelmäßige Treffen zur Archivierung ab, veranstaltet aber auch „Vorträge in erweitertem Kreis zu bahnhistorischen Themen“, wirkt bei Ausstellungen mit und hält „Kontakte zu anderen an der Historie arbeitenden Gruppen“ wie ZHL und SHB.

Den Abschluss der Archiv-Präsentationen bildete der Vortrag von Frau Dipl. oec. Jutta Hanitsch, der Direktorin des Wirtschaftsarchivs Baden-Württemberg, einer 1980 gegründeten Stiftung, die von den Industrie- und Handelskammern und dem Land Baden-Württemberg getragen wird. Das Archiv hat sei-nen Sitz im Schloss Hohenheim in Stuttgart und bewahrt archivwürdige Unterlagen aus dem Wirtschafts-leben des Landes auf. Vielen Anwesenden mag es wie dem Verfasser dieses Rückblicks gegangen sein, der zum ersten Mal von der Existenz dieser Institution und ihren vielfältigen historischen Schätzen erfahren hat. Verbindungen zum Interessensgebiet der Verkehrsfreunde dürften sich hier in erster Linie über Zulieferfirmen des Schienenverkehrs – allen voran die Maschinenfabrik Esslingen – ergeben. Über die Arbeitsfelder der Nahverkehrsbetriebe unserer Region haben wir aber auch durchaus den Straßenfahr-zeugbau im Blick. Dazu konnte Frau Hanitsch in ihrem sehr kurzweiligen und lebendigen Vortrag eine Reihe früher oder auch heute noch bedeutender Unternehmen präsentieren. Es seien u.a. der Ulmer Omnibushersteller Magirus, aber auch Karosseriebauer wie Drögmöller in Heilbronn und Vetter in Fell-bach sowie – für PKW – Reutter (Recaro) und Baur in Stuttgart genannt.

Etwas weiter von unserem Vereinsgegenstand entfernt, dafür aber für den einen oder die andere viel-leicht mit Jugenderinnerungen verbunden, war die Kornwestheimer Motorradfirma Kreidler, die mit ihrem „Florett“ sogar im Motorradrennsport mitmischte, wie ein Foto zeigte. Für den „zugereisten“ Chronisten schließlich waren die formschönen Motorräder Marke UT (=Unter-Türkheim, zuletzt in Stuttgart-Möhringen), die wir auch zu sehen bekamen, eine echte Entdeckung. Wenn man zudem die „Vorher-Nachher-Fotos“ von aufgenommenem Archivgut sieht, kann man den Wert dieser Einrichtung, aber auch die damit verbundene Arbeit und Fachkenntnis ermessen. Eine hochindustrialisierte, reiche Region bewahrt damit ihr kollektives Gedächtnis. Hier sieht man gern einmal über die Grenzen der eigenen Hobby-Interessen hinaus.

Wir danken dem Initiator und Moderator dieser gelungenen Veranstaltung, Jürgen Ranger, sowie den fünf Referentinnen und Referenten dafür, dass sie uns einen Teil ihres Wochenendes geopfert und uns mit gut vorbereiteten und visualisierten Referaten in ihre haupt- und ehrenamtlichen Arbeitsgebiete eingeführt haben. Bernd Katz hat für einwandfreien technischen Ablauf gesorgt. Für die Verkehrsfreunde Stuttgart war dieser Nachmittag ein gelungener Schritt bei der Verfolgung ihrer in der Satzung verankerten Bildungsziele.
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