21.09.2024 ETCS & Co. – Eine Einführung in den Digitalen Knoten Stuttgart
Vortrag von Peter Reinhart, DB InfraGO AG
Rückblick von Rainer Vogler
Mit 64 Anwesenden fand der Vortrag zu diesem sehr aktuellen Thema einen erfreulich guten Zuspruch. Unser Referent, Herr Peter Reinhart, DB InfraGO AG, fand interessierte Verkehrsfreunde vor, die sehr aufmerksam dem Vortrag folgten. Herr Reinhart gehört zu den „Vätern“ des Digitalen Knotens Stuttgart (DKS) und ist bei DB InfraGO AG als Mitarbeiter in der Gesamtprojektleitung Knoten Stuttgart tätig. In dieser Eigenschaft hat er schon einige engagierte Vorträge zu diesem sehr großen Infrastrukturprojekt gehalten. Und auch an diesem Nachmittag stellte er das Projekt professionell vor.
Der Vortrag gliederte sich in vier Teile: technische Einführung, Einführung in das Projekt DKS, vertiefender Überblick zum betrieblich-verkehrlichen Nutzen und Ausblick. Nach jedem Teil gab es eine Fragerunde, die auch rege genutzt wurde.
Technische Einführung
Die große Überschrift lautete „ETCS“: Das „European Train Control System“, zu deutsch „Europäisches Zugbeeinflussungssystem“, ist mittlerweile in rund 70 Ländern in Betrieb, in Bau oder in Planung – und dies weltweit. Die in Stuttgart zu installierenden Komponenten bestehen aus auffällig gelben Quadraten, den Eurobalisen, zwischen den Schienen. Ebenfalls zur Ausrüstung gehören Rechner an den Strecken, die die Informationen von den Gleisen und den Fahrzeugen verarbeiten, und Rechner, die auf jedem Triebfahrzeug vorhanden sind. Digitale Stellwerke verarbeiten alle Informationen zum Zugbetrieb und geben diese über ETCS an jedes im Zuständigkeitsbereich befindliche Fahrzeug weiter. Dieser Stand der Ausrüstung verbirgt sich hinter „ETCS Level 2“.
Am Beispiel unserer S-Bahn-Stammstrecke erläuterte Herr Reinhart, wie die Abläufe sind, wenn sich ein Zug auf der Strecke über die Eurobalisen bewegt. Diese punktgenauen Informationen in Verbindung mit Achszählern ergeben ein genaues Bild davon, wo sich ein Zug befindet, wie schnell er ist und welchen Platz er auf der Strecke benötigt, sowie Streckendaten und wohin der Zug fahren darf („Fahrterlaubnis“). Zwischen den Eurobalisen wird die Position mittels verschiedener Sensoren auf dem Zug („Odometrie“) bestimmt. Der Triebfahrzeugführer sieht auf seinem Bildschirm die maximal zulässige Geschwindigkeit, die Zielgeschwindigkeit und die aktuelle Geschwindigkeit. Dazu werden u.a. noch Bremsweg, Fahrinformationen im Klartext und auch die Streckendaten dargestellt. Liegen alle diese Informationen vor, benötigt der Triebfahrzeugführer keine ortsfesten Signale mehr.
Es liegt nahe, dass es theoretisch möglich ist, vollständig ohne Personal zu fahren. Der Mensch bleibt jedoch als unbedingt notwendige Überwachungsinstanz auf dem Führerstand. Er erhält auch den Abfahrtsauftrag und beobachtet z.B. das Schließen der Türen und die vor ihm liegende Strecke während der Fahrt. Dieser Status wird hochautomatisiertes Fahren genannt, bei dem der Fahrer bei Bedarf die Kontrolle über den Zug zurückerlangen kann („Automatic Train Operation GoA 2“ – „ATO GoA 2“). Bei der Variante „ATO GoA 3“ ist Personal im Zug, das eingreifen kann. Der Zug fährt jedoch automatisch ohne Fahrer. Vollautomatisierte Bahnen, bei dem kein Begleitpersonal mehr im Zug ist, kennen wir von U-Bahnen (z.B. in Nürnberg) oder auf Flughäfen. Sie haben außer in Bahnhöfen keine Schnittstellen zu anderen Verkehren, insbesondere keine Bahnübergänge usw. („ATO GoA 4“).
Einführung in das Projekt Digitaler Knoten Stuttgart (DKS)
Die Skepsis gegenüber einer Digitalisierung der komplexen Schieneninfrastruktur in Stuttgart war und ist immer noch groß. Herr Reinhart ging auf diese Punkte ein und erläuterte anschaulich, was zu der Entscheidung führte, das Projekt DKS zu starten. Kernstücke sind der neue Tiefbahnhof Stuttgart Hbf und die daran anschließende Strecke auf die Filder zum Flughafen und weiter nach Wendlingen. Die aktuellen Planungen gehen davon aus, dass zum Fahrplanwechsel im Dezember 2026 die ersten Züge mit ETCS diese Strecke und zusätzlich die Anbindungen nach Bad Cannstatt und Obertürkheim befahren werden. Seit 2020 sind auch große Abschnitte der S-Bahn Stuttgart dazu gekommen, die auf ETCS umgestellt werden sollen. Am auffälligsten wird die Ausstattung der S-Bahn-Stammstrecke im Sommer 2025 sein, wenn die gelben Eurobalisen in großer Zahl von den Bahnsteigen aus zu sehen sein werden. Wenn alles fertiggestellt ist und alle S-Bahnen (Baureihen 423 und 430) zur Verfügung stehen, wird zwischen Mittnachtstraße und Vaihingen sowie die Strecke ab Rohr zum Flughafen mit ETCS Level 2 ohne Signale betrieben.
Insgesamt müssen mehr als 500 Triebfahrzeuge und Nebenfahrzeuge mit der Technik für ETCS ausgestattet werden. Diese Umrüstung in Serie ist in der Tat eine Herausforderung an den Bund und die Fahrzeugeigentümer, die die Gelder hierzu zur Verfügung stellen müssen. Herr Reinhart führte aus, dass nur eine vollständige Umstellung den erwarteten Effekt auf den Bahnbetrieb haben wird. Die Fahrzeugumbauten für die S-Bahn und die Betreiber der Regionalbahnen werden in Deutschland (Hennigsdorf, Hagen und Nürnberg) und in der Schweiz (Villeneuve) durchgeführt.
In Waiblingen entsteht aktuell der Technikstandort und Bedienstandort für den DKS. Hier laufen alle Informationen zusammen. Und hier befinden sich die Arbeitsplätze der Fahrdienstleiter. Herr Reinhart wies auch darauf hin, dass sich die Fahrdienstvorschriften mit der Digitalisierung ändern werden. Somit haben die dortigen Fahrdienstleiter die aktuelle Richtlinie 408 und zukünftig diejenige für den digitalen Bahnbetrieb (Richtlinie 400) zu beherrschen, was einen entsprechenden Schulungsaufwand bedeutet. Selbstverständlich müssen auch alle im Betriebsdienst auf die neue Technik geschult werden.
Vertiefender Überblick zum betrieblich-verkehrlichen Nutzen
Die Aufwendungen für den Digitalen Knoten Stuttgart, neue Signaltechnik ETCS, die zusätzliche Ausrüstung einzelner Strecken mit herkömmlicher Signaltechnik und die Fahrzeugausrüstung sind immens. Viele hundert Millionen Euro müssen investiert werden. Ziel ist es, die Streckenkapazität deutlich zu erhöhen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass schneller gefahren werden kann, aber dafür in dichterer Zugfolge.
Anhand einer typischen Bahnhofssituation stellte Herr Reinhart die Abläufe bei der bekannten Signalisierung den Abläufen im digitalisierten Betrieb gegenüber. Mit Hilfe der oben beschriebenen Eurobalisen und den errechneten Sicherheitsabständen zwischen den Zügen soll es gelingen, einen nachfolgenden Zug in kürzest möglicher Zeit einen ausfahrenden Zug sicher folgen zu lassen. Im ersten Schritt soll diese Möglichkeit den aktuellen 2,5-Minuten-Takt auf der Stammstrecke sicherstellen. Die so gewonnenen Reserven im Bereich von etwa 45 Sekunden sollen Verzögerungen im Betriebsablauf ausgleichen und damit der Soll-Fahrplan schneller wieder erreicht werden.
Viel Zeit lässt sich unter diesen Bedingungen durch späteres Bremsen und eine frühere Beschleunigung eines Zuges gewinnen. Streckenseitig sind beispielsweise Verkürzungen der Laufzeit von Informationen, Grundlage z.B. für das Festlegen von Fahrstraßen und für die Erteilung einer Fahrerlaubnis, fest eingeplant. Fahrzeugsei-tig sind durch die neue Technik ebenfalls schnellere Reaktionszeiten möglich. Die Rechnung sieht dann so aus, dass die gewonnenen 12 Sekunden je Zugfahrt in Summe 2 (im günstigsten Fall 4) Züge mehr je Stunde und Richtung auf der Stammstrecke ergeben.
Mit den zukünftig verfügbaren Informationen aus den Zügen und der Streckendaten rechnet man mit einer deutlichen Verkürzung von Durchrutschwegen, die bei haltenden Zügen zu berücksichtigen sind. Sind diese aufgrund der permanent überwachten Bremsparameter kürzbar, können Ausfahrten aus anderen Gleisen früher stattfinden.
Eine ganz offensichtliche Auswirkung hat das Nicht-Vorhanden-Sein von Signalen am Bahnsteig: Wie wird zu-künftig das Abfertigen eines Zuges stattfinden? Per Schriftinformation auf dem ohnehin heute schon beim Zugpersonal vorhandenen Mobilteil.
Zum Aufzeigen Optimierungsmöglichkeiten bei Zugbewegungen diente die Darstellung des Flughafenbahnhofs, genauer die Anbindung des geplanten Pfaffensteigtunnels in der Form eines 180°-Bogens. Beim Ausfahren in diesem engen Bogen und gleichzeitiger Beschleunigung des Zuges ergibt sich ein sich stetig ändernder Gleisradius. Auch hier werden Sekunden eingespart, die als Zeitreserve im Gesamtsystem zur Verfügung stehen.
Ausblick
Die Optimierungen im Bahnbetrieb sollen so weit gehen, dass dem Triebfahrzeugführer eine optimale Ge-schwindigkeit angezeigt wird, die ihm ein vorausschauendes Fahren ermöglicht. Idealerweise könnte er ohne bremsen zu müssen, sich einem vorausfahrenden Zug nähern, von dem bekannt ist, dass er gerade beschleunigt und sich damit vom folgenden Zug entfernt. Ähnlich würde auch die Anfahrt auf ein Bahnsteiggleis aus zwei verschiedenen Richtungen erfolgen – eine sehr häufige Situation, die heute zumeist mit dem Stillstand eines Zuges auf freier Strecke einhergeht. Berücksichtigt werden muss dabei selbstverständlich auch die Zugfolge, damit im Fall einer Doppeltbelegung eines Bahnsteiggleises die richtigen Züge an der geplanten Stelle am Bahnsteig zum Halten kommen und die Reihenfolge stimmt.
Bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen und Fahrzeugbetreibern spielen die Kosten für eine Ausstattung mit ETCS auf ihren Triebfahrzeugen eine große Rolle. Ein vereinfachtes und günstigeres ETCS hätte nicht den vollen Leistungsumfang. Dies würde allerdings den Nutzen von ETCS für das Gesamtsystem stark einschränken und die ambitionierten Ziele in puncto Kapazitätserhöhung würden nicht erreicht werden können. Insofern sind die Geldgeber Bund, Länder und private Investoren angehalten, im vollen Umfang zu investieren und keine „halben“ Lösungen umzusetzen.
Die aktuellen Beschaffungsaufträge für neue Triebwagenzüge (Coradia Max und Mireo) beinhalten die Ausrüstung mit ETCS, sind spurtstärker und die einprogrammierten Bremskurven sind deutlich optimiert. Sie sind Teil des zukünftigen Fahrzeugbestands, die die aktuellen Triebwagen zumindest teilweise ablösen sollen, und fester Bestandteil der Betrachtungen für einen pünktlichen Bahnbetrieb.
Wenn der Digitale Knoten Stuttgart gut funktionieren soll, dann muss auch auf den Zulaufstrecken um Stuttgart die technische Ausstattung modernisiert werden. Dieser dritte Baustein umfasst u.a. die weit ins Umland führenden S-Bahn-Strecken. Interessanterweise hat der Digitale Knoten Stuttgart seine Grenze noch vor Vaihingen (Enz). Die überarbeitete Planung sieht jedoch vor, auch die Schnellfahrstrecke Stuttgart – Mannheim auf ETCS umzustellen. Mit dem dann neuen „ETCS Level 3“, der auch die Überwachung der Zuglänge berücksichtigt (Stichwort: ungeplante Zugtrennung), ist eine noch schnellere Räumung des Gleises in kürzerer Zeit bis zur Neubelegung des Gleises möglich.
Bei langen Triebwagenzügen sind die Fahrzeuggeräte an beiden Enden installiert, so dass auch stets das Ende eines Zuges dem Überwachungssystem bekannt ist. Bei Güterzügen setzt man alles auf die Digitale Automatische Kupplung (DAK), die eine Voraussetzung für die geplante Automatisierung und Digitalisierung des Schienengüterverkehrs ist. Die DAK soll auch die Funktion haben, ungeplante Zugtrennungen auch im Güterverkehr sehr zuverlässig zu erkennen.
Als Teststrecke für „ETCS Level 3“ soll ein Teil der Remsbahn im Abschnitt Waiblingen – Waldhausen dienen.
Herr Reinhart hat es verstanden, uns in eine für die meisten Anwesenden neue Welt mitzunehmen. Unsere klassischen Signale, die wir heute überall sehen, werden mit der Zeit verschwinden. Wir vertrauen uns noch mehr Rechenzentren an und hoffen auf einen zuverlässigen und pünktlichen Bahnverkehr. Die Zukunft wird zeigen, ob das sehr ambitionierte Projekt DKS in Verbindung mit ETCS unsere Erwartungen erfüllen wird. Die Theorie für Stuttgart hat Herr Reinhart mit großer Überzeugung vorgetragen.
Wir bedanken uns sehr für diesen einerseits technischen und andererseits mit Beobachtungen aus dem aktuellen Bahnbetrieb ergänzten Vortrag und die fundierte Beantwortung spontan gestellter Fragen aus dem Publikum.
Herr Reinhart hat uns den Foliensatz seines Vortrags dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.